Freitag 19. September 2025

Gemeinschaft der Sünder - Weil niemand ohne Sünde ist

5. Fastensonntag

 

Autor:

Dr. Markus Schlagnitweit, Hochschulseelsorger
 

Joh 8,1-11 - eine Predigt zum Prinzip Gemeinwohl der kath. Soziallehre

 

Einführung

Sünde trennt: von Gott, von den anderen, von mir selbst. Aber sie verbindet auch: weil niemand ohne Sünde ist. Und so bindet das an sich Trennende den einzelnen Menschen zugleich untrennbar ein in eine Gemeinschaft, die ihm die Erlangung und Erfüllung seines eigentlichen Zieles erst ermöglicht und erleichtert: ein Mensch zu werden, wie er/sie von Gott gewollt ist.

 

Predigt

 

Die Idee des modernen Rechtsstaates beruht letztlich auf einer urbiblischen bzw. urchristlichen Einsicht und Erfahrung, die auch Gegenstand unseres Evangeliums ist: dass nämlich kein Mensch von Natur aus gut, jeder Mensch vielmehr ein Sünder sei. Das steht im Widerspruch zum gängigen Menschenbild von Humanismus und Aufklärung, die gemeinhin als Ursprung der modernen Rechtsstaatsidee gelten. Das Christentum behauptet dagegen unbeirrt: Keinem Menschen ist voll und uneingeschränkt zu trauen. Kein Mensch ist frei vom Versuch, das eigene Leben, d.h. die eigenen Interessen über jene seiner Mitmenschen zu stellen und u.U. auch gegen diese durchzusetzen bzw. auf deren Kosten auszuleben. Kein Mensch ist frei von der Versuchung, sich selbst unkritisch ins Recht und dabei andere ins Unrecht zu setzen. Lüge, Untreue, Rechtsbeugung und Gewalt aus egoistischen Motiven sind allgegenwärtig – und sei es nur in Form allgemein geduldeter „Kavaliersdelikte“.

Niemand unter uns ist ganz gut; niemandem unter uns ist ganz zu trauen; niemand unter uns ist ganz frei von Egoismus. – Wie aber schaffen wir es dann trotzdem, uns zu begegnen, ohne gleich übereinander herzufallen, weil Angriff ja doch immer noch die beste Verteidigung ist? Wie schaffen wir es trotzdem, einigermaßen zivilisiert miteinander umzugehen, immer darauf vertrauend, dass unser Gegenüber sich ebenso an die üblichen Regeln von Recht und Anstand hält? Mit welchem Recht gestehen wir es den Stärkeren dagegen nicht einfach zu, sich gegen andere durchzusetzen? Und weshalb versu­chen wir selbst nicht einfach ohne Rücksicht auf Verluste, in diesem Konkurrenzkampf halt irgendwie Oberwasser zu behalten auf Kosten Schwächerer? – Gibt es vielleicht doch ein höheres Gut, dem wir die Durchsetzung eigener Interessen um jeden Preis hintanstellen?

Die Soziallehre der Kirche beantwortet diese Frage mit der Rede vom Gemeinwohl als einem Grundprinzip für das funktionierende menschliche Zusammenleben. Dieses christliche Gemeinwohl-Prinzip lässt sich etwa auf folgende Kurzformel bringen: „Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“, und es sucht damit so etwas wie einen Kompromiss zwischen der rücksichtslosen Verabsolutierung individuellen Glücksstrebens auf Kosten anderer und der totalen Unterordnung dieses Glücksstrebens unter ein kollektiv verordnetes Lebens- und Gesellschaftsmuster.

Obwohl das Christentum sozusagen um die Gefährlichkeit und Korrumpierbarkeit des einzelnen Menschen weiß, sichert und gesteht es dem Einzelnen eine größtmögliche Freiheit zu. Weil es um die sündige Natur des Menschen weiß, versucht es zugleich, diese zu bändigen, indem es Freiheit und Recht auf Glück allen in gleichem Maße zubilligt, also auch den Schwächeren und Benachteiligten.

Um das aber sicher zu stellen – größtmögliche Freiheit und das Recht auf Glück und Lebensentfaltung für möglichst alle – braucht es Rahmenbedingungen, gemeinsame Spielregeln und Ordnungsmächte. Es braucht eine unabhängige Kontrolle dieser Ordnungsmächte, weil ja auch diese Ordnung wieder von Menschen organisiert wird, die selbst nicht frei von Sünde sind. Worauf das hinausläuft: Am vorläufigen Ende der Entwicklung zu einem gedeihlichen gesellschaftlichen Miteinander, das dem christlichen Gemeinwohlprinzip entspricht, steht unsere heutige Auffassung vom modernen demokratischen Rechtsstaat mit der für ihn typischen Teilung und gegenseitigen Kontrolle der politischen Gewalten.

Die Soziallehre der Kirche sieht darin die Grundaufgabe des Staates: das Gemeinwohl zu verfolgen. So sagt das Zweite Vatikanische Konzil:

„Die politische Gemeinschaft besteht um dieses Gemeinwohls willen [...]. Das Gemeinwohl aber begreift in sich die Summe all jener Bedingungen gesellschaftlichen Lebens, die den einzelnen, den Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen gestattet.“ (Gaudium et spes, 74)

Das Ökumenische Sozialwort der Kirchen in Österreich, das vor wenigen Monaten erschienen ist, betont, dass politische Anstrengungen das Gemeinwohl – vor allem gegen egoistische Interessen von einzelnen und von bestimmten Gruppen – zu verfolgen haben:

„Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit sind vor allem die Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen und sozialen Zusammenhalt zugrunde zu legen, anstatt sie vorrangig nach Einzelinteressen auszurichten.“ (Sozialwort, 90)

Das Beharren auf Einzelinteressen und Vorteilen für wenige auf Kosten vieler erkennt die Kirche als Sünde. Gerade wenn diese Privilegien auch durch eine entsprechende Politik durchgesetzt und ermöglicht werden, braucht es Demokratie. Demokratie besteht von ihrem Wesen her auch darin, den jeweiligen Machthabern zu misstrauen und Opposition gegen sie zu organisieren. Denn menschliche Macht korrumpiert allzu gerne, und die Vorteile der Reichen werden viel eher durchgesetzt als wirkliche Gerechtigkeit.

Es ist paradox: Obwohl es das Wesen der Sünde ist zu trennen – nämlich von Gott, von den Mitmenschen und von mir selber, hat die Sünde auch etwas Verbindendes. Weil niemand ohne Sünde ist, bindet das an sich Trennende den einzelnen Menschen zugleich untrennbar ein in eine Gemeinschaft – eine Gemeinschaft von Sündern, die zugleich eine überlebensnotwendige Schutz- und Rechtsgemeinschaft ist: weil sonst alle voreinander Angst haben und unaufhörlich bangen müssten um die Erlangung von Glück und um die Erfüllung ihres eigentlichen Zieles: gemeinsam Menschen zu werden, wie sie von Gott gewollt sind. Amen.

 

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